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Ganz ohne „er“ und „sie“ – geht das?

Varpu Vuorjoki,

Finnisch und Estnisch als genderfreie Sprachen

Ein Gespräch zwischen Varpu Vuorjoki und Dr. Berthold Forssman

Varpu Vuorjoki ist Übersetzerin für Finnisch, Dr. Berthold Forssman für Estnisch. Die beiden Sprachen sind eng miteinander verwandt und gehören nicht zum indogermanischen Sprachstamm. Seit jeher haben sie eine Besonderheit aufzuweisen: Sie kennen kein Genus (grammatisches Geschlecht)! Das heißt, dass es zwar Wörter für „Mann“ und „Frau“ oder für „Bruder“ und „Schwester“, aber keinen Unterschied zwischen „er“ und „sie“ gibt.

Die Finnin

Von Helsinki ...

Varpu: Als finnische Muttersprachlerin bin ich ohne „grammatisches Geschlecht“ aufgewachsen und beobachte die sich intensivierende Diskussion über gendergerechte Sprache in Deutschland und Großbritannien mit Interesse. Und da frage ich mich schon, ob die deutsche und englische Sprache im Namen der Gleichberechtigung wirklich so viel komplizierter werden müssen? „Fußgängerinnen und Fußgänger“ empfinde ich als unnötigen Ballast; „zu Fuß Gehende“ klingt für mich ausgesprochen künstlich. Persönlich fühle ich mich mit den generischen maskulinen Bezeichnungen mit angesprochen und bin gerne Optimist, Fußgänger oder Radfahrer. In meiner Signatur schreibe ich allerdings „Übersetzerin“ – auch, um nicht versehentlich als „Herr Vuorjoki“ angesprochen zu werden.

Der Deutsche

... nach Tallinn

Berthold: Wenn ich aus dem Estnischen übersetze, muss ich tatsächlich manchmal Stellung beziehen. Wenn irgendwo nur ein Nachname und eine Berufsbezeichnung stehen, sollte ich schon korrekt wiedergeben, ob sich hier eine Pressesprecherin geäußert hat oder ein Mann. Dabei erlebe ich auch immer wieder Überraschungen, denn in Estland – wie auch in Finnland – gibt es sehr viele Frauen in Führungspositionen! Ich kann also keineswegs davon ausgehen, dass in einem Unternehmen der Boss automatisch ein Mann ist. Allerdings gibt es in einigen Fällen durchaus Endungen oder Vorsilben, um z. B. eine Tänzerin klar als Frau zu markieren. So war bei der Wahl von Angela Merkel ins Kanzleramt in estnischen Zeitungen oft auch von ihr als „naiskantsler“ die Rede, das heißt, das Wort „kantsler“ bekam eigens die von „naine“ (Frau) abgeleitete Vorsilbe „nais-“.

Varpu

Das kenne ich auch! In Finnland gab es traditionell viele Berufsbezeichnungen mit der Endung -mies („-mann“), und der Sprachausschuss „Suomen kielen lautakunta“ setzt sich inzwischen verstärkt für eine diskriminierungsfreie Sprache ein, auch wenn es länger dauert, bis sich das in der Umgangssprache niederschlägt. Aber da die Personalpronomen für beide bzw. alle Geschlechter nun einmal identisch sind, muss ich das bei der Übersetzung ins Finnische berücksichtigen. Das heißt, dass ich Pronomen manchmal durch Substantive ersetzen muss, um Eindeutigkeit zu schaffen. Was Auftraggebern allerdings häufiger Kopfzerbrechen bereitet (und ihren Programmierern Mehrarbeit verursacht): Wir Finnen werden nicht als „Frau“ oder „Herr Vuorjoki“ angesprochen, sondern mit Vor- und Nachnamen. Von der unterschiedlichen Handhabung von „du“ und „Sie“ ganz zu schweigen – aber das hat ja nichts mit Gendern zu tun ...

Berthold

Ich weiß noch, wie uns die Finnisch-Lektorin an der Uni mal eine kleine Falle stellte: Sie gab uns zur Übersetzung einen Text, in dem von einer älteren Person erzählt wurde, die als Lehrkraft für Französisch an einem Gymnasium tätig war. Über eine ganze Seite hinweg wurde kein Name genannt, und es kam kein Wort wie „Mann“ oder „Frau“ vor. Hinterher stellte sich heraus, dass aufgrund gewisser Klischees die eine Hälfte des Kurses davon ausgegangen war, dass es sich um eine Frau handeln müsse. Die andere Hälfte hatte gar nicht nachgedacht, sondern aus Bequemlichkeit einfach das generische Maskulin benutzt, also durchgehend „er“ geschrieben. Beide Fraktionen mussten schallend lachen, als die Ergebnisse einander gegenübergestellt wurden! Aber einmal kam ich als Übersetzer in einem Text definitiv nicht weiter, und so fragte ich den estnischen Autor verzweifelt, ob er denn einen Mann oder eine Frau gemeint habe. Er überlegte lange und sagte dann: „Weißt du – eigentlich war mir das in diesem Augenblick überhaupt nicht wichtig“.

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